Eine junge Frau rast auf einem Motorrad durch Seoul, mal ist es eine echte Frau, mal eine animierte Heldinnenfigur in einer Art Raumanzug. Die Stadt zerfällt in Millionen Fragmente, der Zuschauer wird hinein gesogen in eine atemlose Science-Fiction-Szenerie, hört immer wieder Dialog- und Monologfragmente, weiß nicht, wo oben und unten ist. Die Leinwände sind riesig, die Welt unvertraut. Und dann ist da eine zweite Frau, mit der die erste kämpft und sich mit ihr misst, sie dann aber wieder liebevoll umschlingt.
Die „Delivery Dancer“-Reihe der südkoreanischen Künstlerin Ayoung Kim verlangt dem Zuschauer körperlich einiges an Widerstandsfähigkeit ab: Das ist nichts für schwache Augen oder empfindliche Mägen, die negativ auf Flugsimulatoren oder PoV-Filme aus Achterbahnen reagieren würden. Das MoMA PS1 im New Yorker Stadtteil Queens widmet der Guggenheim-Preisträgerin Kim gerade ihre erste amerikanische Solo-Schau, Titel: „Delivery Dancer Codex“. Der Ableger des Museum of Modern Art eröffnet damit gleichzeitig die Herbstsaison.
Tagelöhner der Moderne
Auf Kims Werk „Delivery Dancer’s Sphere“ von 2022 folgten weitere Videos, die das Schicksal ihrer Cyborg-Lieferfahrerinnen Ernst Mo und En Storm weiterspinnen und die ebenfalls in Long Island City in Queens gezeigt werden: „Delivery Dancer’s Arc: 0° Receiver“ und „Delivery Dancer’s Inverse“, beide von 2024. In den zum Teil auf mehreren Leinwände nebeneinander laufenden Videos entfaltet sich mit Hilfe von KI, CGI und Game-Elementen die Liebe-Hass-Erzählung der Kuriere in einem apokalyptisch anmutenden Stadtraum. Kim lässt Aufnahmen von Seoul mit computergenerierten Bildern verschmelzen, um eine Welt zu zeigen, in der Zeit und Raum „gefaltet und eingerastet“ werden können, wie eine Stimme im Video sagt. Die Protagonistinnen müssen raumzeitliche Grenzen durchbrechen, während sie dauernd auf Anweisungen der Liefer-App und des „Dancemaster“-Algorithmus, der ihnen befiehlt, reagieren.
Unbekannte Tageszeiten: Ayoung Kims Installation "Inverse"Roz AkinWährend der Pandemie habe sie wie alle anderen in ihrer Wohnung gesessen und sei abhängig gewesen von Lieferfahrern, erzählt Kim bei der Eröffnung der Schau. Bald habe sie sich immer stärker für das Leben der Fahrer interessiert, die oft auf Mofas und Motorrädern kamen, ihre Gesichter hinter Helmen verborgen. Eines Tages habe Kim eine Lieferantin gebeten, sie mitzunehmen. Und plötzlich habe sie selbst unter dem Helm hinten auf dem Motorrad gesessen und sei durch Stadtteile gefahren, die sie nicht gekannt habe. Nach der Enge der Wohnung im Lockdown sei das eine sehr befreiende Erfahrung gewesen, sagt Kim.
In den Videos werden die Lieferfahrerinnen von einer körperlosen weiblichen Stimme geleitet, angetrieben, getadelt. Sie sollen schneller ans Ziel kommen, sich an die Routen halten, sich nicht zu lange aufhalten, mahnt die Stimme. Die Frauen laufen durch dunkle Korridore, Trümmerlandschaften, über ihnen zusammenfallende Kanäle. Die Farben sind mal grell, mal ist alle Farbe gewichen. Einmal berichtet eine der Frauen von Albträumen und Schlafstörungen, nur, um von der Stimme dafür gescholten zu werden. Als eine Fahrerin versehentlich ein Artefakt aus einer vergangenen Epoche ausliefert, geraten Zeiten und Welten durcheinander.
Feministische Cyborgs
Die Namen der beiden Protagonistinnen, Ernst Mo und En Storm, sind Anagramme auf „Monster“. Die können neue Identitäten annehmen und durch Raum und Zeit reisen. Es sind in dem Sinne feministische Monster, in dem sie nicht an traditionelle Rollenvorstellungen gebunden sind und sich neu erschaffen können. Bei Kim wird das Monster zu einer widerständigen Figur, die sich gegen die Zurichtung der Gig Economy, der modernen Tagelöhner-Wirtschaft, wehrt: Der Körper tanzt, weil er überleben will. Kims Monster sind Arbeiterinnen-Figuren, die gegen ihre technisch überlegenen Unterdrücker kämpfen.
Botschaften aus der Cyberwelt: die Künstlerin Ayoung KimMoMA/KanghyukDie Ausstellung zeigt die beiden Fahrerinnen auch in mehreren skulpturalen Installationen: einmal als kämpfende oder sich umschlingende lebensgroße Figuren, einmal als körperlose, gegenübergestellte Helme, in deren Visieren die Videosequenzen laufen. Kim, die kürzlich den Prix Ars Electronica und den LG Guggenheim Award gewonnen hat, gilt als Star unter den Videokünstlerinnen. Ihr Werk war im vergangenen Sommer auch im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen. Kim hatte sich auch in früheren Werken bereits auf die Cyborg-Figur bezogen. Als Einflüsse zitiert die Künstlerin zum Beispiel Octavia Butler und Donna Haraway.
Sie sei interessiert an einer anderen Konzeption von Zeitmessung und Temporalität, die Techniken anderer Zivilisationen als der westlich-europäischen mit einbeziehe, sagt Kim bei der Ausstellungseröffnung. Die Zeit in den „Delivery Dancer“-Filmen ist wie klappbar, sie breitet sich aus und kollabiert, öffnet sich wie eine Erdspalte und gibt den Blick frei auf eine unendliche Welt möglicher Zukünfte. Im dritten Teil, „Delivery Dancer’s Inverse“ von 2024, landen die Fahrerinnen in einem völlig neuen Universum. Möglicherweise können sich Ernst Mo und En Storm in dieser Welt von der Algorithmus-Knechtschaft befreien.
Ayoung Kims Werk ist nicht richtungslos „technophil“, sondern sie nutzt die Technologien als Mittel, um Emotionen, Geschichten und Zukunftsvisionen zu transportieren. Ihre feministischen Cyborgs werden dabei zum Symbol hybrider Subjektivität, die sich selbst immer wieder neu erfinden kann. Wer die Filme auf den riesigen Leinwänden in Queens schaut, auf Sitzsäcken im abgedunkelten Raum, oder auf einer schiefen, mit Teppich bezogenen Ebene unter grellem Licht liegend, dem ist am Ende vielleicht ein wenig schwindelig. Man hat einen Blick erhascht in eine unendliche Zahl von Zukünften.
Ayoung Kim. Delivery Dancer Codex. MoMA PS1, New York; bis 16. März 2026. Kein Katalog.

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