Seit zwei Jahren hören Berichterstatter über den Nahen Osten zwei Klagen. Die eine lautet, seit dem 8. Oktober 2023 werde das Massaker vom 7. Oktober ignoriert, alle Welt rede nur über Gaza. Die andere Klage lautet, niemand rede über Gaza.
Beides ist offenkundig nicht wahr. Es spricht einiges für die Annahme, dass der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 eines der in Medien meistthematisierten Ereignisse seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist. Aber auch der Gazakrieg hat bis vor wenigen Wochen die Medien beschäftigt wie nur wenige andere Themen.
Polarisierung auf die Spitze getrieben
Die Polarisierung, die bei den Themen Nahostkonflikt, Israel, Antisemitismus ohnehin groß ist, wurde dadurch auf die Spitze getrieben. In Deutschland gab es Demonstrationen, Übergriffe, Beleidigungen, Petitionen und scharfe öffentliche Schlagabtausche. Und das ist nur, was vor den Kulissen ablief. Für die Medien war und ist das ein andauernder Stresstest, und viele sagen, sie hätten ihn nicht bestanden. Wie beschrieben, sind mit diesem Urteil aber völlig gegensätzliche Einschätzungen verbunden.
Kibbuz Nir Oz: Yuval (r) und Tom trauern am Sarg ihres Vaters, der getöteten Geisel Ronen Engel, nachdem sein Leichnam im Rahmen des Abkommens zur Waffenruhe zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas aus dem Gazastreifen zurückgebracht wurde.dpaDie Publizistin Esther Schapira hat in der F.A.Z. in den Chor derjenigen eingestimmt, die den öffentlich-rechtlichen Sendern in Deutschland vorwerfen, gegen Israel voreingenommen zu sein. Die eklatanten „tendenziöse(n) Verzerrungen, Halbwahrheiten und Fehler“, die sie deutschen Medien und insbesondere ARD, ZDF und Deutschlandfunk nachsagt, finden sich aber in ihrem eigenen Beitrag. So lässt sich leicht ermitteln, dass in den genannten Medien die Herrschaft der Hamas und die Traumata von Israelis sehr wohl immer wieder thematisiert wurden.
Der Autor dieses Beitrags tritt nicht zur Ehrenrettung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an. Aus Tel Aviv lässt sich dessen Arbeit ohnehin weniger gut beurteilen als aus Deutschland. Gibt es Probleme bei der Berichterstattung, ist sie manchmal nicht ausgewogen? Bestimmt. Ist sie komplett undifferenziert, naiv und ideologisch gegen Israel vereinnahmt? Gewiss nicht. Eine weitere Journalistin, die BR-Reporterin Natalie Amiri, kommt in ihrem kürzlich veröffentlichten Buch „Der Nahost-Komplex“ zu einem ganz anderen Urteil. Erst durch längere Aufenthalte in der Region sei ihr klar geworden, dass die öffentlich-rechtlichen Sender in der Vergangenheit zu wenig über die palästinensische Seite berichtet hätten und mit Blick auf den Gazakrieg lange Zeit kritiklos das Narrativ der israelischen Armee und Regierung übernommen hätten.
Die Kritik an Israel wurde lauter
Feststellen lässt sich, dass Vertreter Israels vor allem in den ersten Kriegsmonaten reichlich Gelegenheit hatten, ihre Sichtweise darzulegen, auch in den gebührenfinanzierten Sendern. In den „Tagesthemen“ vom 13. November 2023 wurde ein Sprecher der israelischen Armee sieben Minuten lang interviewt. Mehr Zeit bekomme nur der Bundeskanzler, merkte ein ARD-Journalist an.
Denkbar und wahrscheinlich ist, dass die Berichterstattung sich im Laufe der Zeit auch verändert hat. Mit zunehmender Dauer des Gazakriegs wurde die Kritik an Israel immer lauter – das dürfte sich in Medienberichten widerspiegeln. Wer ein abgewogenes Urteil über deutsche Nahostberichterstattung fällen will, muss die Umstände berücksichtigen, unter denen sie entsteht.
Schapira hebt hervor, dass vor allem Bilder von Leid und Zerstörung aus dem Gazastreifen dringen, und behauptet, allein das stempele alle Israelis zu Tätern. Was sie nicht erwähnt, ist der Umstand, dass die israelische Regierung bis heute ausländischen Journalisten den Zutritt zu dem Gebiet verwehrt. Das beeinträchtigt die Möglichkeiten der Berichterstattung enorm. Gerade politische Themen lassen sich von außen schwer recherchieren, und palästinensische Quellen und Mitarbeiter vor Ort haben häufig Angst, sich freimütig etwa über die Hamas zu äußern.
Menschen laufen am 2. Dezember 2025 inmitten der Trümmer zerstörter Gebäude im Lager Nuseirat für vertriebene Palästinenser im zentralen Gazastreifen.AFPSchapira fordert, dass deutsche Medien – die keinen Zugang zum Gazastreifen haben – über politische Hintergründe berichten. Gleichzeitig sollen sie aber nicht mit lokalen Mitarbeitern arbeiten, weil die angeblich „ausschließlich der Hamas genehme Bilder und Aussagen“ produzieren. Wie soll die Berichterstattung dann funktionieren? Soll man umgekehrt vielleicht ganz darauf verzichten? Soll man auch kein menschliches Leid mehr abbilden, weil dies ja im Sinne der Hamas sei? In komplexen Berichterstattungslagen wie dieser stellen sich schwierige Fragen an journalistische Ethik und Praxis, aber die sollte man dann auch ernsthaft und sachlich diskutieren.
Alle Seiten versuchen, die Berichterstattung zu beeinflussen
Was die vor Ort tätigen Journalisten wahrnehmen, sind zuletzt spürbar gestiegene Versuche, die Berichterstattung zu beeinflussen. Die kommen aus allen möglichen Richtungen und auf verschiedenen Wegen. Gegen die BR-Journalistin Sophie von der Tann richten sich seit Wochen besonders viele Vorwürfe. Auch Schapira, die lange für den HR tätig war, betrachtet die 34 Jahre alte von der Tann als Speerspitze der im öffentlich-rechtlichen Rundfunk angeblich dominierenden „Palästina-Solidarität“.
Zuletzt versuchte die „Welt“, einen Vorwurf daraus zu konstruieren, dass von der Tann in einer internen Gesprächsrunde mit dem bayerischen Antisemitismusbeauftragten Ludwig Spaenle gesagt haben soll, der 7. Oktober habe eine „Vorgeschichte“, die ein Jahrhundert zurückreiche. Darin steckt tatsächlich ein kleiner Skandal – nämlich der, dass Spaenle diese Sichtweise offenbar für empörend hielt. Dass ein promovierter Historiker denkt, ein Ereignis steht isoliert im historischen Raum, ist eine irritierende Vorstellung. Der CSU-Politiker hätte bei seinem Israel-Besuch auch Angehörige der Opfer des Terrorangriffs sowie freigelassene Geiseln treffen können, die seit Monaten die Einrichtung einer staatlichen Untersuchungskommission fordern – um die Vorgeschichte des 7. Oktobers aufzuklären.
Warum richtet sich die Kritik gerade den Sophie von der Tann?
Beim Versuch, zu begründen, warum von der Tanns (angebliche) Äußerung problematisch sei, greift Schapira zu einem merkwürdigen Vergleich. Man würde ja auch nicht behaupten, dass der Holocaust eine Vorgeschichte habe, legt sie nahe. Als habe es die völkische Bewegung oder Hetzschriften wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ nicht gegeben.
Es ist eine interessante Frage, warum gerade Sophie von der Tann so sehr ins Visier geraten ist. Bei der ARD fiel ihnen irgendwann auf, dass die israelische Botschaft in Berlin bei gemeinsamen oder inhaltsgleichen Beiträgen verschiedener Korrespondenten stets nur von der Tann kritisierte. Frauenfeindlichkeit könnte ein Grund sein. Wahrscheinlicher ist aber eine andere Erklärung. Von der Tann war in den vergangenen zwei Jahren als einzige Korrespondentin durchgehend für die ARD vor Ort und hatte am meisten Sendezeit. Die junge, telegene Journalistin ist das Gesicht des Gazakriegs im deutschen Fernsehen geworden; sie erhält besonders viel Lob und besonders viel Gegenwind.
Die Angriffe auf von der Tann sind Teil von Bestrebungen, kritische Berichterstattung insgesamt zu delegitimieren und Journalisten zu diskreditieren. Wie gefährlich diese Entwicklung ist, kann man in Israel studieren, wo die Polarisierung weiter vorangeschritten ist als in Deutschland. Dort gibt es inzwischen regelmäßig Aufrufe zur Gewalt, Journalisten sind Angriffen ausgesetzt. Die Diffamierungskampagne gegen sie hat dazu geführt, dass von der Tann jetzt auch in Israel ins Visier gerät.
Zeev Avrahami, der Berlin-Korrespondent der auflagenstarken Zeitung „Yedioth Ahronoth“, referierte am Mittwoch die Vorwürfe und insinuierte, von der Tann stamme vielleicht aus einer Nazi-Familie und wolle sich durch einseitige Berichterstattung davon reinwaschen. Es sei kaum zu fassen, wie „dreist“ von der Tann sei, schreibt Avrahami. „Sie lebt und geht in Tel Aviv spazieren, spricht frei Deutsch und genießt alle Vorzüge der Stadt, ohne dass es jemanden stört.“ Jede Hasskampagne erreicht irgendwann den Punkt, an dem sie in tatsächliche Gewalt umschlagen kann.

vor 2 Tage
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