Mitte November war ORF-Generaldirektor Roland Weißmann noch zuversichtlich: Ein neuer Rekord sei möglich, die Zahl der teilnehmenden Länder am Eurovision Song Contest (ESC) 2026 in Wien könnte die Zahl 43 übersteigen – das wären also noch mehr Länder als in den Jahren 2008, 2011 (in Düsseldorf) und 2018. Vor der Corona-Pandemie und auch, bevor Russland die Ukraine überfiel. Doch um Russland und auch seinen Verbündeten Belarus, die beide seit 2022, als sie von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) vom Wettbewerb ausgeschlossen wurden, ging es nur indirekt am Donnerstagabend bei der 95. EBU-Generalversammlung in Genf. Es ging um Israel und den Krieg im Gazastreifen im Nachgang des Überfalls der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023. Mehrere Länder hatten in den vergangenen Monaten gedroht, den ESC in Wien zu boykottieren, sollte Israel auch im nächsten Jahr dabei sein und nicht – wie Russland und Belarus – ausgeschlossen werden.
Spanien und Slowenien hatten vor der entscheidenden zweitägigen Generalversammlung an ihrer Boykottdrohung festgehalten, die Niederlande und Irland wurden ebenfalls zu den Widersachern einer Teilnahme des öffentlich-rechtlichen Senders KAN aus Israel gezählt. Deutschland wiederum, der Südwestdeutsche Rundfunk, und auch das Gastgeberland Österreich, der ORF, hatten hingegen immer wieder betont, dass nicht Länder, sondern eben Rundfunkstationen an der Veranstaltung teilnehmen, und solange sich KAN an die EBU-Regeln halte, sei ein Ausschluss eines israelischen Künstlers von dem Musikwettbewerb nicht begründbar. Anders als die russischen und belarussischen Sender.
Auch Slowenien und Irland sagen ab
Die EBU hatte eigens die Regeln beim ESC geändert, hatte wieder Jurys in den Halbfinals eingeführt, die Anzahl der Jurymitglieder von jeweils fünf auf sieben erhöht und die Zahl der Televotingstimmen von zwanzig auf zehn gesenkt, um die Gemüter zu beruhigen. Die Israelin Yuval Raphael hatte im Mai in Basel fast fünfmal so viele Zuschauerstimmen bekommen (297 Punkte) wie Jurystimmen (60 Punkte) und damit mit ihrem Lied „New Day Will Rise“ den zweiten Platz im Finale erreicht. Das war von einigen Rundfunkstationen als ungerecht empfunden und kritisiert worden, worauf der danach neu berufene Generaldirektor des ESC, Martin Green, reagierte.
Der ORF hatte gehofft, dass der vom amerikanischen Präsidenten Donald Trump ausgehandelte Friedensplan für den Nahen Osten ebenfalls einen Stimmungsumschwung herbeiführen würde. Die geplante Abstimmung über eine Teilnahme Israels wurde von der EBU deswegen abgesagt. Doch laut der spanischen Website 20minutos.es kam es am späten Donnerstagnachmittag doch zu einer geheimen Abstimmung, da acht Sender eine solche gefordert haben sollen und damit mehr als die von der EBU geforderten fünf.
Am frühen Abend schrieb als Erster der niederländische Sender AVROTROS, dass man beschlossen habe, 2026 nicht am Eurovision Song Contest teilzunehmen. „Dieser Entscheidung ging ein sorgfältiger und umfassender Beratungsprozess voraus, in dem wir eine Vielzahl von Interessengruppen konsultiert haben: vom israelischen Botschafter über Amnesty International und die EBU bis hin zu mehreren europäischen öffentlich-rechtlichen Sendern sowie unserem eigenen Verbandsrat, Betriebsrat, Aufsichtsrat und den vielen Tausend Eurovision-Fans, die sich an uns gewandt haben.“ Nach Abwägung aller Perspektiven komme AVROTROS zu dem Schluss, dass eine Teilnahme unter den gegenwärtigen Umständen nicht mit den für die Organisation grundlegenden öffentlichen Werten vereinbar sei. „Diese Entscheidung wurde in enger Abstimmung mit dem niederländischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk (NPO) getroffen, der unsere Schlussfolgerungen respektiert und unterstützt.“
Damit war klar, dass es in der Versammlung eine Entscheidung zugunsten Israels gegeben hatte. Das bestätigte kurz danach auch die EBU offiziell: Die Mitglieder hätten sich deutlich für eine Teilnahme Israels ausgesprochen und damit auch für den Schutz der Neutralität des ESC, hieß es in einer Erklärung am Abend. Zudem hätten sich die Sender für die Regeländerungen ausgesprochen, um für mehr Vertrauen und Transparenz zu sorgen. Spanien und Slowenien ziehen sich vom ESC 2026 ebenfalls zurück. Die Präsidentin des Vorstands des slowenischen Senders RTV, Natalija Gorščak, hatte sich zuvor schon genauso eindeutig positioniert wie der Präsident des spanischen Senders RTVE, José Pablo López. Man wolle auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, hatte Gorščak gesagt. Die Regeländerungen und ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas allein reichten nicht aus. Irland boykottiert ebenfalls den Wettbewerb in Wien. Island, Belgien und Portugal wollen in den kommenden Stunden und Tagen ihre Entscheidung bekanntgeben. Der Wackelkandidat Finnland hingegen bestätigte am Abend, dass man zum ESC fahren werde.
Ob es dennoch für eine Rekordteilnahme reicht, muss sich zeigen. Angeblich könnte Kasachstan beim Jubiläums-ESC, dem 70., in Wien erstmals dabei sein. Das Land hatte schon zwischen 2018 und 2022 an der Nachwuchsveranstaltung Junior Eurovision Song Contest teilgenommen und den Contest zwischen 2010 und 2021 jeweils live durch den staatlichen Fernsehsender Khabar übertragen. Und es sollen auch Gespräche mit Kanada im Gange sein, das dann wie Australien als Gast einen Künstler entsenden könnte.

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