Im Juni 1920 veröffentlichte Kurt Tucholsky unter dem Titel „Der Ausweis“ eine spöttische Abrechnung mit der preußischen Nachkriegsgesellschaft. Tucholsky machte sich keine Illusionen über die transformative Kraft von Kriegen, eine „Ausweisseuche“ sah er aufziehen, und als erklärter Pazifist war er sich sicher, dass sie von deutschen Militärs ausging: „Ohne Ausweis machte ihnen der ganze Weltkrieg keinen Spaß.“
In ihrer lesenswerten Studie „Passfotos unter Zwang“ geht die Berliner Kulturwissenschaftlerin Britta Lange dem Zusammenhang von Krieg und staatlicher Kontrolle nach. Vor allem geht es ihr um ein im frühen zwanzigsten Jahrhundert noch recht junges Medium: die Fotografie. Der 31. Juli 1914 war nicht allein der Tag, an dem das Deutsche Reich Russland den Krieg erklärte. Erlassen wurde an diesem Tag auch ein neues Passgesetz, das erstmals die Pflicht zum Anbringen eines Lichtbildes vorsah. Wie genau, lässt sich im „Reichs-Gesetzblatt“ nachlesen: „Die Photographie ist auf dem Pass aufzukleben und amtlich derart abzustempeln, dass der Stempel etwa zur Hälfte auf der Photographie, zur anderen Hälfte auf dem Papier des Passes angebracht ist.“
Die deutschen Militärkolonien im Osten
Allerdings war damit noch nicht festgesetzt, dass jeder im Deutschen Reich einen Pass besitzen musste. Notwendig wurde er nur, wenn man die Grenzen des Staates in Richtung Ausland überqueren wollte. Doch was genau hieß in jenen Kriegstagen eigentlich noch Ausland? Wer in jenen Territorien lebte, die das deutsche Militär besetzt hatte, und älter als zehn Jahre war, sah sich eben doch mit einer Ausweispflicht konfrontiert. Lange zeigt eindrucksvoll auf, wie die okkupierten Gebiete in Polen, Belgien und Nordfrankreich in Experimentierfelder der staatlichen Kontrolle verwandelt wurden. In ihnen wurde eine militärische Realpolitik etabliert, die unter Einsatz neuer bildmedialen Praktiken immer auch eine Realienpolitik war.
Britta Lange: „Passfotos unter Zwang“. Deutsche Fotopolitik im Ersten Weltkrieg.de GruyterIn ihrer Untersuchung konzentriert sich Lange auf ein Territorium, das seinerzeit als „Ober Ost“ bezeichnet wurde: die von den Deutschen besetzten Gebiete des Russischen Reichs, die heute in Lettland, Litauen sowie in Teilen Weißrusslands und Polens liegen. Im Unterschied zu den Eroberungen im Westen handelte es sich hier um kaum weniger als eine Militärkolonie: Umso leichter ließen sich Regeln für Kontrolle und Zwang durchsetzen.
Eine Folge war die Idee, die Bevölkerung fotografisch systematisch zu erfassen. Bis zu drei Millionen Passbilder sollen auf diese Weise entstanden sein. Selbst wenn diese Angaben schwanken, eine solche Kampagne dürfte in vollkommen neue Dimensionen vorgestoßen sein. Wirksam wurde hier eine Bildlogistik, für die Lange in ihrem Buch mehrere Beispiele bespricht – sie zeigen nicht die Ergebnisse, also die entstandenen Porträts, sondern das „Phot. Kommando“ in Aktion.
Was hat wohl das Publikum über solche Darstellungen gedacht?
Effizienz war dabei ein entscheidender Faktor. Bis zu zehn Menschen nahmen gleichzeitig vor der Kamera des „Photographischen Kommandos“ Platz; unter offenem Himmel eingezwängt in eine improvisierte Etagere. Die Bilder dieser Menschen, von eins bis zehn durchnummeriert, konnten später auseinandergeschnitten werden. Übrigens waren solche Vorrichtungen schon 1916 in der „Illustrierten Geschichte des Weltkrieges“ abgebildet worden, um das neue deutsche Passwesen zu veranschaulichen. Gern wüsste man, was das Publikum seinerzeit über solche Darstellungen gedacht hat.
Das Besondere dieser Fotografien über das Fotografieren liegt in ihrer Doppeldeutigkeit: Einerseits verdichten sie eine dunkle Geschichte der Moderne; die Kamera wurde eines ihrer wichtigsten Instrumente. Andererseits berichten solche Darstellungen auch von individuellen Menschen. Sie sollten als Quellen ernst genommen werden. Eben dieser Spur folgt Lange in einem abschließenden Kapitel. Auf eindrucksvolle Weise sucht sie nach Details, die sich in die Bilder eingeschlichen haben und an denen das „Phot. Kommando“ kein Interesse gehabt haben wird.
Es sind bedeutungsvolle Kleinigkeiten, die auf diese Weise zum Sprechen gebracht werden: verstohlene Blicke, versteckte Berührungen, verkrampft gehaltene Hände. Wirksam wird hier eine der wichtigsten Aufgaben fotohistorischer Arbeit: Unseren Blick für das zu schärfen, was immer auf diesen Bildern auch noch zu sehen ist.
Britta Lange: „Passfotos unter Zwang“. Deutsche Fotopolitik im Ersten Weltkrieg. De Gruyter Verlag, Berlin 2025. 166 S., Abb., geb., 59,95 €.

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