Führungsschwäche im Westen: Europa braucht furchtlosere Anführer

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Natürlich ist es ein Segen, von ihnen regiert zu werden. In Berlin, in Brüssel, in London und in Paris sitzen Verantwortliche, die Kinder des Rechtsstaats und des Wohlstands sind. Sie sind im Frieden groß geworden, sozialisiert in einer Epoche, in der nicht das Recht des Stärkeren darüber entschied, wer es nach oben schafft, sondern Auswahlprozesse, die Ausdauer und Fleiß belohnen, vielleicht auch nur Anpassung und Umgänglichkeit. Auf diese Weise sind seit dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ in der Wirtschaft und Politik kompetente Technokraten an die Spitze gelangt. Leute mit zivilem Temperament, die sich in komplexen Organisationen zurechtfinden, ohne anzuecken. Vor allem die Männer unter ihnen scheinen gelernt zu haben, sich selbst zurückzunehmen und vorsichtig zu sein, um nicht in den Verdacht des Chauvinismus zu geraten. Wie gesagt: in Friedenszeiten ein großes Glück.

Doch auf Englisch heißt es: „Be careful what you wish for.“ Wenn in Erfüllung geht, was man sich gewünscht hat, wird es nämlich oft gefährlich. Jetzt haben wir zwar rechtschaffene Anführer aus guten Kinderstuben. Aber wir haben keine Draufgänger mehr wie Winston Churchill, der keinem Konflikt aus dem Weg ging und erst im Krieg richtig aufblühte, und auch keine schroffen Eisernen Ladies wie Margaret Thatcher, die vor keiner Konfrontation ­zurückschreckte. Wer es heutzutage durch die Auswahlverfahren der Parteien schafft, hat Korrektheit und Vorsicht verinnerlicht.

Der Mut, Risiken einzugehen

Und das ist jetzt ein großes Problem. Seit etwa zehn Jahren ist es nämlich vorbei mit dem Frieden. Der liberalen Demokratie setzt von außen Russland zu, von innen der Rechtspopulismus. Gleichzeitig stagniert die Wirtschaft, das Klima kippt, und die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz ist unberechenbar. Es ist ein Szenario, dem selbst Hartgesottene kaum gewachsen wären – vom derzeitigen Personal ganz zu schweigen. Denn die Verantwortlichen wuchsen im Biedermeier auf und müssen plötzlich in einem Zeitalter operieren, in dem Fähigkeiten gefragt sind, die nicht in ihrem Wesen liegen.

Giuliano da EmpoliGiuliano da EmpoliEPA

Der französisch-italienische Publizist Giuliano da Empoli bezeichnet das, was über den Westen gekommen ist, als „Stunde der Raubtiere“. Die liberale Ordnung wird mit einer Schnelligkeit, Rücksichtslosigkeit und Aggressivität angegriffen, mit der ihre Verteidiger nicht umzugehen wissen. Denn Raubtiere setzen sich naturgemäß über Regeln, Konventionen und Kontrollmechanismen hinweg. Mit dem gewohnten technokratischen Arsenal von Vernunft und Verhandlungen ist ihnen nicht beizukommen – und über ein anderes verfügen die gegenwärtigen Systemverteidiger meist nicht. Ihre Hilflosigkeit, der Mangel an Mut und Entschlossenheit, die Angst, etwas falsch zu machen, und der Widerwille, Risiken einzugehen, werden angesichts der wachsenden Gefahren immer deutlicher.

Die führenden Köpfe der Demokratischen Partei in Amerika sind den Europäern ähnlich. Vor einem Jahr beteuerten sie zwar, dass bei der amerikanischen Präsidentenwahl die Zukunft der Demokratie auf dem Spiel stünde. Doch den dramatischen Worten folgten keine Taten. Kein einziger Demokrat von Rang und Namen war bereit, die eigene Karriere aufs Spiel zu setzen, die undankbare Rolle des Königsmörders zu übernehmen und Joe Biden herauszufordern. Der überforderte Greis wurde erst ausgewechselt, als es zu spät war.

Devot lächelnd mit großer Unterwürfigkeit

Ähnlich konfliktscheu und schockstarr lassen sich jetzt die europäischen Regierungschefs von Donald Trump vorführen. Trump, sein Stellvertreter JD Vance und ihre Verbündeten könnten ihre Geringschätzung für EU und NATO nicht deutlicher machen. Verteidigungsminister Pete Hegseth bezeichnet Europa als „erbärmlich“. Elon Musk wirbt ungeniert für die AfD in Deutschland und für den Rechtsextremisten Tommy Robinson in Großbritannien. Auf einer Massendemonstration in London rief er zu Gewalt auf. Und wie reagieren die Europäer auf diese beispiellosen Provokationen?

US-Präsident Donald Trump schüttelt der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen die Hand, während sie sich auf dem Trump Turnberry Golfplatz treffen.US-Präsident Donald Trump schüttelt der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen die Hand, während sie sich auf dem Trump Turnberry Golfplatz treffen.dpa

Devot lächelnd und mit großer Unterwürfigkeit. Der NATO-Generalsekretär Mark Rutte nennt Trump „Daddy“. Der britische Premierminister Keir Starmer bemüht sich mithilfe königlichen Pomps um Trumps Gnade. Und Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, die von der französischen Zeitung „Le Monde“ als „Gesicht der europäischen Schwäche“ bezeichnet wird, strahlte und streckte den Daumen nach amerikanischer Art nach oben, nachdem der EU von Amerika ein desaströses Zollabkommen aufgezwungen worden war.

Auch die anderen lassen sich vor laufender Kamera demütigen. Wie artige Schulkinder kamen führende Europäer im August vor Trumps Schreibtisch im Oval Office, um über seine Gespräche mit Moskau unterrichtet zu werden. Zur Friedenskonferenz nach Scharm el-Scheich reisten sie ebenfalls als stumme Statisten und Claqueure an, die Trump wie geheißen Beifall spendeten.

Die Bevölkerung will nicht von Drückebergern regiert werden

Dabei steht den Staatsmännern und Staatsfrauen jedes Mal ins Gesicht geschrieben, wie unwohl sie sich in der eigenen Haut fühlen und wie ratlos sie sind. Diese vielsagenden Bilder sind verhängnisvoll, denn sie entkräften die Behauptung, dass es sich bei ihrer Ergebenheit um vernünftige Realpolitik und wohl durchdachtem Pragmatismus handelt. Stattdessen kann jeder Wähler mit eigenen Augen sehen, dass sie sich schlicht nicht zu wehren wissen, vielleicht sogar Angst haben.

Dieser Eindruck ist politisch verheerend. Er spielt den heimischen Rechtspopulisten in die Hände und befeuert deren Hetze gegen unfähige Eliten. „Die Furchtsamkeit der Führungskräfte“, schreibt der „Economist“, „bestätigt nur die Kritik, dass den herrschenden Eliten die Ideen ausgehen und ihnen die Kompetenz fehlt, mit der sie für sich werben.“ Kurz: Die Bevölkerung will nicht von Drückebergern regiert werden, die nicht wissen, was sie tun, deshalb auf Zeit spielen und dem frommen Wunsch nachhängen, dass der autoritäre Spuk bald vorbei sein wird. Darüber können auch scheinbar markige Sprüche von Friedrich Merz über Stadtbilder nicht hinwegtäuschen.

Außenpolitisch ist diese Friedfertigkeit fatal. Aggressoren wie Trump und der russische Präsident Wladimir Putin können – raubtiergleich – Schwäche und Unentschlossenheit riechen. Dass Demut deshalb nur weitere Demütigung erzeugt, ist eine Faustregel, die das Führungspersonal des Westens im Kalten Krieg stets beherzigte. Frühere Anführer wussten, wie viel Politik mit Inszenierung zu tun hat, mit dem Anschein von Entschlossenheit, mit Täuschung und Bluff. Mittlerweile scheint das weitgehend vergessen.

Nicht alle sind so risikoscheu

Doch es gibt Ausnahmen: Mexiko und Kanada sind noch viel abhängiger von guten Handelsbeziehungen mit den USA als Europa. Trotzdem ließen sich weder die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum noch der kanadische Premierminister Mark Carney von Trump einschüchtern und schlugen anders als die Europäer sowohl rhetorisch als auch mit Gegenzöllen zurück. Und wie jeder Prädator, der auf leichte Beute aus ist, ließ Trump ab. „Sie sind zäh“, sagte er anerkennend zu Sheinbaum und schob die angekündigten Zollerhöhungen auf mexikanische Waren „aus Re­spekt“ auf. Auch China lenkte nicht ein und eskalierte den Zollkrieg. Trump nannte Xi Jinping daraufhin einen „harten, klugen Führer“.

Doch es wäre unfair, den derzeitigen Machthabern in Europa, die von innen und außen umzingelt sind, den Man­gel an jener Aggressivität, die es jetzt brauchte, persönlich vorzuwerfen. Sie sind Produkte einer Zeit, in der Draufgänger und Machtmenschen, Spieler und Risikoliebhaber systematisch ausgesondert wurden. Sie sind die personelle Konsequenz der sogenannten Friedensdividende, die jetzt verbraucht ist.

Deshalb muss der Rest der westlichen Welt die Auswahlkriterien für sein Führungspersonal überdenken. Wenn die Raubtiere vor den Toren und dahinter bezwungen werden sollen, brauchen die Systemverteidiger auch in ihren Reihen Anführer, die sich aufs Kräftemessen, auf Wagnis und Entschlossenheit verstehen. Denn wenn die Biographien von Churchill, aber auch von Konrad Adenauer und Nelson Mandela eines beweisen, dann die Wirksamkeit von Verwegenheit und Mut. Das kann das Überleben der liberalen Demokratie zwar nicht garantieren. Doch es würde ihre Anziehungskraft und Verteidigungsfähigkeit deutlich erhöhen.

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