Doku über Antisemitismus: Diese „Protokolle“ waren die schlimmste Lüge der Geschichte

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Den Roman „Die Schmuggler von Biarritz“ von John Ret­cliffe, erstmals erschienen 1868, kann man auch heute noch leicht antiquarisch in Auflagen aus dem frühen 20. Jahrhundert oder in billigen Nachdrucken finden – oder online im Projekt Gutenberg. Der Verfasser hieß eigentlich Hermann Ottomar Friedrich Goedsche, ein Agent Provocateur der Preußischen Geheimpolizei aus Schlesien. „Biarritz“, so der ursprünglich kürzere Titel, würde heute aus dem Wust der älteren Trivialliteratur kaum herausstehen, wäre da nicht eine Szene, die es zu einem katastrophalen Weltruhm gebracht hat. „Auf dem Judenfriedhof in Prag“ treffen Vertreter der „zwölf Stämme Israels“ zusammen, sie reden über Staatsanleihen, Grundbesitz, Gewerbefreiheit, und sie werden dabei belauscht.

Literarisch handelt es sich um ein Stück Schauerromantik, in das ­allerdings eine ganze Menge Wirtschaftspolitik einfloss. Goedsches nächtliche Konferenz wurde zum Ausgangspunkt für eine der folgenreichsten Verschwörungserzählungen der Welt: „Die Protokolle der Weisen von Zion“, eine der wichtigsten Urkunden des Antisemitismus, die bis heute dafür herhalten muss, wenn jemand von einer geheimen Weltregierung oder von einem heimlich jüdisch gesteuerten Weltkapital wissen will.

Die „Protokolle“ wurden erstmals in Russland gedruckt

Felix Moeller, mehrfach ausgewiesen mit Filmen über das Erbe des Nationalsozialismus („Verbotene Filme“, „Jud Süss 2.0“), legt nun mit „Weltkarriere einer Lüge“ einen gründlichen Dokumentarfilm über die „Protokolle“ vor – für das Kino wurde eine ursprüngliche Fernsehfassung noch einmal um 20 Minuten erweitert. Der Roman von Retcliffe wird dort auch angeführt, denn bis heute ist nicht vollständig geklärt, woher der erste Text, der mit der Anmutung der Offenlegung einer geheimen jüdischen Absprache für die Lenkung des Weltgeschehens auftrat, stammt.

„Die Protokolle der Weisen von Zion“ kommen aus Russland, wo sie erstmals gedruckt wurden, wahrscheinlich nach einer französischen Vorlage, die jedoch nie gefunden wurde. Indizien sprechen gleichwohl dafür, dass in Paris an dem Text geschrieben wurde, möglicherweise von Agenten der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei. Sie trugen vieles zusammen, was sich für die Phantasie in Dienst nehmen ließ, Juden hätten einen geheimen Plan, die Herrschaft über die Welt zu übernehmen.

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Sobald der Text in der Welt war, wurde er in viele Sprachen übersetzt. In Deutschland fiel er auf fruchtbaren Boden, zum Beispiel bei Adolf Hitler, der in „Mein Kampf“ schrieb, dass er sich von der aufgeklärten Presse nicht von seinem Glauben abbringen lasse, und dabei ausdrücklich die „Frankfurter Zeitung“ erwähnte, die schon damals von einer „Fälschung“ sprach. Auf diesen Begriff geht Moeller in Interviews mit dem verschiedenen Experten, die er befragt hat, ein.

Eine „Fälschung“ sind die „Protokolle“ nur insofern, als sie eben vorgeben, ein tatsächliches Geschehen zu überliefern. 1935 wurde darüber in der Schweiz sogar ein Prozess geführt, der aus dem nationalsozialistischen Deutschland genau verfolgt wurde, und in dem die Verleger schließlich freigesprochen wurden. Die Episode ist für den heutigen Kontext sehr wichtig, und hätte vielleicht eine etwas eingehendere Behandlung vertragen, denn sie berührt alle Aspekte von Meinungsfreiheit, Hassrede, Volksverhetzung, mit denen es die Öffentlichkeiten bis heute zu tun haben.

Ein Dokument der Aufklärung

Moeller verfolgt die Wirkungsgeschichte der „Protokolle“ dann auch bis in die Gegenwart. Er zeigt auf, wie sie unter Muslimen zu einem mehr oder weniger kanonischen Dokument wurden, zu einem „Klassiker“, der in der modernen Bibliothek in Alexandria auch als ein solcher geführt wird. Die Hamas hat in ihrer Charta Passagen, die sich von dem Konspirationsnarrativ beeinflussen ließen. Und dass in der deutschen Fassung auch von einer „Einimpfung von Seuchen“ die Rede ist, wurde während der Corona-Pandemie zu einem Motiv, das bis heute nachwirkt.

„Weltprotokolle einer Lüge“ verfolgt die Vorstellungen einer geheimen Gruppe, die das Weltgeschehen beeinflusst, bis in feine Verästelungen – ein Plakat der französischen Partei „La France insoumise“ ist nur für ein paar Sekunden im Hintergrund zu sehen und wird nicht eigens thematisiert. Es steht für einen linken Antisemitismus. Die jüdische Aktivistin Hanna Veiler fungiert in „Weltkarriere einer Lüge“ als heutige Gegenstimme zu den vielen Konstellationen, in denen Aspekte der „Protokolle“ fortwirken, zum Beispiel auf der Plattform X, einem „dunklen Ort“. Ihr Inhaber Elon Musk gehört zu der großen Menge derjenigen, die einen Humus der Rezeption bilden, in dem der Antisemitismus gestaltwandlerisch und halbbewusst fortlebt.

Die amerikanischen Plattformen mit ihren neuen Superwerkzeugen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz sorgen nun auch dafür, dass viele „Horrorfratzen“ sich wie von selbst vertausendfachen. Immer wieder hört man mit Bezug auf die „Protokolle“, sie wirkten „wie gestern geschrieben“. In den technischen Öffentlichkeiten der Gegenwart wirken sie auch „wie morgen geschrieben“. Auf diesen unheimlichen Umstand weist „Weltkarriere einer Lüge“ mit gebührendem Nachdruck hin.

Als Dokument der Aufklärung ist der Film für ein großes Spektrum an Zielpublikum lohnend. Nur die zwischendurch verwendeten Animationen hinterlassen einen etwas zwiespältigen Eindruck, weil sie sich der Bildsprache des Antisemitismus beinahe mimetisch bedienen. Kritisch-mimetisch, so ist es wohl gedacht.

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