Woran lag es bloß, dass Władysław Stanisław Reymont sich selbst so gern neu erfand, seiner Umgebung verschiedene Gesichter zeigte, seiner Biographie Ereignisse hinzufügte, die nicht stattgefunden hatten, ja sogar seinen Namen änderte? Daran womöglich, dass er wirklich das dachte, was ihm einmal ein Freund schrieb: „Menschen mit unserem Charakter lassen sich ungern durch irgendwelche moralischen Regeln einengen“? Oder an den schwierigen Jugendjahren, die er vermutlich am liebsten vergessen hätte? An der Zeit, in der er als 1867 im Dorf Kobiele Wielkie geborener Sohn des lokalen Organisten noch Stanisław Władysław Rejment hieß und lustlos versuchte, seinen Weg zu finden?
Der junge Reymont hatte zwar von früh an ein ausgezeichnetes Gedächtnis und ähnlich wie seine Mutter ein großes Erzähltalent, es mangelte ihm aber an Disziplin, sodass er zuerst ständig die Schule und dann den Beruf wechselte. Er wusste nur, dass er nicht in die Fußstapfen des Vaters treten wollte; was er stattdessen tun wollte, war ihm lange Zeit aber nicht klar. Er wurde Schneiderlehrling und bekam sogar ein entsprechendes Diplom, er versuchte sich als Gehilfe eines Landvermessers, als Schauspieler einer Wandertheatertruppe und als Verkäufer von Devotionalien, ja, er spielte sogar kurz mit dem Gedanken, einem Orden beizutreten. Bis ihm sein Vater schließlich eine Stelle bei der Warschau-Wiener Eisenbahn besorgte, für die er unter anderem in der Nähe des Dorfes Lipce arbeitete, das er später in seinem Opus Magnum „Die Bauern“ verewigen sollte.
Das prägende Erlebnis Łódź
Was aber für ihn selbst damals wohl viel wichtiger war: Er schrieb dort seine ersten literarischen Texte, und die Tatsache, dass sie auch veröffentlicht und gelesen wurden, ermutigte ihn dermaßen, dass er 1894 beschloss, nach Warschau zu ziehen und sich ganz der Schriftstellerei zu widmen.
Seitdem nahm seine Karriere richtig Fahrt auf. Schon zwei Jahre später, im Frühjahr 1896, fuhr er nach Łódź, um Material für einen großen Roman zu sammeln, den er mit dem Warschauer Verlag Gebethner und Wolff vereinbart hatte. Sein Interesse für die Stadt Łódź war einige Monate zuvor erwacht, als er sie kurz besucht und dabei festgestellt hatte, dass sie sich seit seiner Jugend – er hatte sich dort erfolglos an einem Gymnasium beworben – vollkommen verändert hatte: Sie war zu einem sich rasant entwickelnden Industriezentrum geworden. Das lag einmal daran, dass sie seit dem Wiener Kongress (1815) den zaristischen Behörden unterstand, wodurch die Zollgrenzen zu Russland, einem riesigen Absatzmarkt, offen waren, und dann auch daran, dass bald danach ein Fachmann befunden hatte, dass sich die Gegend besonders gut für die Entwicklung der Textilindustrie eignen würde.
Sein Schreiben befeuerte er mit Unmengen an Kaffee und Zigaretten
So siedelten sich in der ursprünglichen Bauernsiedlung Łódź schon um 1820 die ersten Weber an, denen schnell weitere folgten, dann kamen Industrielle, die Textilfabriken bauten, in denen Dampfmaschinen zum Einsatz kamen, und schon bald wurde der Ort zu einer Textilindustriemetropole, die sich auf Baumwollverarbeitung und Massenproduktion billiger Stoffe spezialisierte und deren Einwohnerzahl im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts von circa 400 auf nahezu 300.000 angewachsen war.
„Das ist ein Epos für mich“, notierte Reymont nach seiner Ankunft. Es hatte zwar schon früher Versuche gegeben, dieses neue Łódź zu beschreiben, doch er ließ sich davon nicht entmutigen. Mit dem schmalen Œuvre, das er bis dahin publiziert hatte, war er nicht sonderlich zufrieden, und er spürte, diesmal endlich den richtigen Stoff gefunden zu haben. Reymont quartierte sich in einem Zimmer im Hintergebäude eines bescheidenen Mietshauses ein und ging daran, die Stadt zu erkunden. Tagsüber lief er umher und nahm jeden Winkel in Augenschein, oder er saß in einem der vielen Lokale und unterhielt sich mit allen, die sich in ein Gespräch verwickeln ließen. Abends saß er in seinem Hinterhauszimmer und hielt bei Unmengen von Kaffee und Zigaretten seine Erlebnisse und Beobachtungen fest.
Władysław Stanisław Reymont auf einer Fotografie aus den zehner Jahren des zwanzigsten JahrhundertsPicture AllianceEr ließ auch seine Bekannten bei jeder Gelegenheit wissen, welch großen Eindruck Łódź auf ihn machte, und in einem Brief zählte er sogar exakt auf, was ihn an der Stadt besonders faszinierte: das „wahrhaft amerikanische“ Entwicklungstempo, die Psychologie der Massen, die „sich vermischen, einander durchdringen und zu einem Typus, dem Łódźermenschen, verschmelzen“, und die Art, wie sich die Polen „in dieser kosmopolitischen Mühle verändern“.
Das literarische Ergebnis seiner Faszination konnte man von Beginn des Jahres 1897 an in zwei Zeitungen, „Kurier Codzienny“ (Tageskurier) und „Nowa Reforma“ (Neue Reform), in Fortsetzungen nachlesen, und im August 1898 legte Reymont das fertige, größtenteils in Paris und Quarville bei Orléans entstandene Manuskript dem Verlag Gebethner und Wolff vor, der den Roman 1899 in einer opulenten Doppelbandausgabe herausbrachte.
Nicht die Hauptfiguren machen den Reiz aus, sondern deren Umfeld
Es war ein gewaltiges Werk geworden, das die Bezeichnung „Epos“ tatsächlich verdiente: ein breites, vielseitiges und kontrastreiches gesellschaftliches Panorama, bestehend aus zahlreichen ineinander verwobenen Handlungssträngen und Motiven. Dabei ließe sich die Haupthandlung in wenigen Worten zusammenfassen: Drei Freunde, ein Pole, ein Deutscher und ein Jude, die sich aus der Studienzeit in Riga kennen, erfüllen sich einen Jugendtraum und gründen in Łódź gemeinsam eine Fabrik. Um ihr Ziel zu erreichen, schrecken sie vor nichts zurück. Ersparnisse und Kredite, ein im richtigen Moment abgefangenes Telegramm, Ehen, die aus reinem wirtschaftlichem Kalkül geschlossen werden – jedes Mittel ist ihnen recht. Kaum ist die Fabrik fertig gebaut, brennt sie nieder, was das Ende nicht nur ihrer Träume, sondern auch der Freundschaft bedeutet.
Um diese drei Protagonisten herum gruppiert Reymont aber unzählige weitere Figuren aus allen sozialen Schichten, die für die eigentliche Dynamik sorgten. Auf diese Weise wird zum Haupthelden des Romans die Stadt Łódź selbst, dieses moderne „gelobte Land“, in das unaufhörlich Menschenmassen strömten, die um schnelles Geld oder die Erfüllung ihrer wie auch immer gearteten Träume kämpfen. Dabei ging es Reymont nicht so sehr darum, die zeithistorischen und topographischen Realien der Stadt exakt wiederzugeben; er wollte vielmehr ihren besonderen Charakter einfangen und tat dies, um einen oft verwendeten Vergleich seiner Erzähltechnik mit der Arbeit einer Kamera aufzugreifen, mal in Form einer Totalen, mal in schnellen Nahaufnahmen von Straßen, Plätzen, Passagen, Parks, Häusern, Restaurants und Cafés. Darin drückten sich auch seine antiurbanistische Haltung aus, die er bei aller Faszination empfand, und seine Kritik an der sich formierenden Industriegesellschaft.
Das gespaltene Echo seiner Zeitgenossen
Die Reaktionen der Leser auf den Roman zeugten zwar von starkem Interesse, fielen aber sehr unterschiedlich aus. Die einen lobten die Weitsicht, die Reymont durch die Schilderung der Schattenseiten der Industrialisierung bewiesen hatte, die anderen warfen ihm vor, ein allzu düsteres und pessimistisches Bild von Łódź gezeichnet zu haben, noch andere reagierten empört, weil sie hinter mancher negativen Figur sich selbst vermuteten. Es gab auch Einwände, die einen gesellschaftspolitischen Hintergrund hatten: Die Sozialisten kritisierten, Reymont hätte sich zu wenig mit der Arbeiterklasse befasst, die Nationaldemokraten nahmen ihm übel, die eigenen Landsleute in einem wenig günstigen Licht dargestellt zu haben, und die jüdischen Kreise störten sich an den nicht wenigen Passagen, die den damaligen antisemitischen Stereotypen entsprachen, und ließen sich kaum durch das Argument beschwichtigen, dass es in dem Roman auch negative Darstellungen von Polen und Deutschen gab.
Jene Kritiker allerdings, die den Roman nach rein stilistischen Kriterien beurteilten, fällten positive bis enthusiastische Urteile: „Der Impressionist Reymont feiert hier einen wahren Triumph“, schrieb ein Rezensent, während andere Nähe zum Expressionismus auszumachen glaubten oder mit den Begriffen „naturalistisch“, „realistisch“ und „modernistisch“ jonglierten und dem Buch Einflüsse von Zola, Hugo, Hobson und Ruskin attestierten beziehungsweise Vergleiche zu den Meistern der polnischen positivistischen Prosa zogen.
Die Schreibanstrengung brachte Reymont eine Gelbsucht ein
Mit seinem Großroman hatte Reymont also den ersehnten Erfolg erzielt. Doch schon bald plagten ihn andere Sorgen: Sein chaotischer Lebensstil, zu dem unzählige Liebschaften, permanente finanzielle Probleme, ständiger Standortwechsel und sogar eine spiritistische Episode gehörten – Letztere führte ihn unter anderem nach London und inspirierte ihn später zu dem Roman „Der Vampir“ (1911) –, blieben nicht ohne gesundheitliche Folgen. Unmittelbar nach der Fertigstellung von „Das gelobte Land“ war er derart erschöpft, dass er an Gelbsucht erkrankte, kurz darauf machten ihm das Herz und die Lungen Probleme. Er fuhr zu einer dreimonatigen Kur an die Ostsee, anschließend nach Paris, schließlich kehrte er im Frühjahr 1899 nach Polen zurück, wo er abermals verschiedene Kurorte aufsuchte, unter anderem Zakopane.
Władysław Stanisław Reymont (rechts)mit dem Schriftsteller Józef Weyssenhoff auf einem Gemälde von Stanislaw Lentz (1861-1920)Picture AllianceAls er nach einem Besuch in Warschau wieder nach Zakopane wollte, ereignete sich am 13. Juli 1900 eine Katastrophe: ein Zusammenstoß zweier Züge, bei dem es mehrere Tote und viele Verwundete gab, zu denen auch Reymont gehörte. Er wurde mit gebrochenen Rippen und Verletzungen an den Beinen in ein Krankenhaus gebracht; später kamen Sehstörungen und eine Nervenkrankheit hinzu. Nach der Visite bei einem bekannten Berliner Neurologen, der Reymont einen Gefallen tat und in seinem Gutachten infrage stellte, ob er weiterhin arbeitsfähig sei, zahlte die Warschauer-Wiener Eisenbahn eine sehr beträchtliche Entschädigung in Höhe von 38.500 Rubel. Das verbesserte Reymonts finanzielle Situation so erheblich, dass er zwei Anwesen kaufen und vor allem endlich seine Verlobte, Aurelia Szabłowska, heiraten konnte.
Der neue Höhepunkt seines Schaffens entstand in Paris
Das Paar ging 1902 für längere Zeit nach Paris, wo dann der Roman entstand, mit dem Reymont nach anfänglichen Schwierigkeiten – er soll den Großteil der ersten Fassung verbrannt haben – einen neuen Höhepunkt seiner epischen Kunst erreichte: „Die Bauern“, ein monumentales, an Homer und Zola geschultes Werk, das 1902 bis 1908 als Fortsetzungsroman in „Tygodnik Ilustrowany“ (Illustriertes Wochenblatt) und 1904 bis 1909 in Buchform erschien. Jeder der vier Romanbände ist einer anderen Jahreszeit gewidmet, was die Naturverbundenheit des bäuerlichen Lebens unterstreichen soll, und das anfangs erwähnte Lipce, in dem die Geschichte der – abermals von unzähligen weiteren Figuren umgebenen – Bauernfamilie Boryna spielt, erscheint als Symbol eines polnischen Dorfes schlechthin. Damit reihte sich Reymont unter die zahlreichen jungpolnischen Autoren ein, die es dem Krakauer Dramatiker Stanisław Wyspiański, Autor des bis heute vielgespielten symbolreichen Theaterstücks „Die Hochzeit“ (1901), nachmachten und sich zu ihren Werken von der Bauernkultur inspirieren ließen.
Die Schwedische Akademie war aber auch noch Jahre später von seinem polnischen „Nationalepos“ so beeindruckt, dass sie es mit dem Nobelpreis von 1924, für den neben Reymonts Landsmann Stefan Żeromski auch Thomas Mann und Maxim Gorki vorgeschlagen waren, auszeichnet. Bis dahin hatte sich Reymonts Gesundheitszustand allerdings derart verschlechtert, dass er nicht mehr imstande war, die Auszeichnung in Stockholm selbst entgegenzunehmen. Er konnte auch nur ganz kurz das Preisgeld genießen; nach seinem Tod – er starb am 5. Dezember 1925 – profitierte seine Witwe davon, die in der Nähe von Warschau ein Landgut kaufte, das heute „Reymontówka“ genannt wird und sich teils als Museum, teils als Künstlerhaus versteht.
Sowohl in diesem Haus als auch an unzähligen anderen Orten in ganz Polen fanden in diesem Jubiläumsjahr Lesungen aus Reymonts Werk statt. Es ist aber zu bezweifeln, dass der dabei meistgewählte Titel „Die Bauern“ war. Denn es wird zwar bis heute eifrig betont, dass dies sein wichtigstes Werk sei – es wurde nicht nur in 27 Sprachen übersetzt, sondern auch drei Mal verfilmt. In puncto Popularität läuft ihm jedoch „Das gelobte Land“ schon seit langem den Rang ab. Es ist dieses zwar nur einmal – dafür aber meisterhaft von Andrzej Wajda – verfilmte Łódź-Porträt, das Reymont als einen grandiosen Chronisten des Wandels ausweist und von den einen geliebt, von anderen gehasst, aber auf jeden Fall gelesen wird. Und das in seiner Beliebtheit im Grunde in der polnischen Literaturgeschichte nur einen Konkurrenten hat: „Die Puppe“ von Bolesław Prus, den besten aller Warschau-Romane.
Marta Kijowska gehört zu einem Übersetzertrio, dessen Übertragung von „Das gelobte Land“ Mitte kommenden Jahres in der Anderen Bibliothek erscheinen soll.

vor 13 Stunden
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